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Nach einer wahren Begebenheit:

Der vollständig abgedunkelte, kleine Raum ist bis auf den letzten Platz besetzt. Einige Besucher entscheiden sich hinten an der Wand stehen zu bleiben.

Warum zieht es die Leute in diese Videovorführung, wenn draußen Kate Moss und Claudia Schiffer sind?

Ich schaue mir das Video bereits zum zweiten Mal an, um eine Antwort zu finden.

Die Kamera begleitet einen Mann Anfang siebzig bei seiner Arbeit.
Er ist in Duisburg aufgewachsen, einer durch Eisen- und Stahlindustrie geprägten Stadt im Ruhrgebiet. Als Schaufensterdekorateur hat er dort gearbeitet bis es ihn nach Berlin an die Akademie der Künste zog.

„In Duisburg möchte man nicht tot überm Zaun hängen“, sagte später einmal ein Politiker über die Stadt. Schwer also vorzustellen, dass sich jemand, der täglich von Schwerindustrie umgeben ist, für fine arts interessiert. Es dauert noch etwas bis sich der Mann schließlich Ende zwanzig der Fotografie verschreibt.

New York und Paris sind nur zwei der vielen Orten zu denen wir ihm folgen, um schließlich in seinem Archiv in Paris zu landen.

Was ein Anblick!

Wir blicken in einen großen, hellen Raum zu einem begrünten Innenhof ausgerichtet. Die Wände hängen voll mit großformatiges Fotos. Es sind vorwiegend Portraits. Auf den Tischen stapeln sich Mappen und Bücher. In den Schubladen sind etliche Dias einsortiert.

Das Interview beginnt.

Ob er nicht langsam mal in Rente gehen wolle, fragt ihn der Interviewer. (Womöglich dachte er sich, dass ja kaum noch mehr Material in diesen Raum passt.)

Peter Lindbergh sitzt inmitten seines Lebenswerks.
Er lächelt und seine Augen funkeln aus den kleinen Schlitzen. Eine Ruhe und sogar Gemütlichkeit geht von ihm aus.
An Rente denke er nicht. Warum auch, er wisse ja jetzt wie alles funktioniere und die Arbeit fiele ihm dadurch viel leichter als früher.

Alle großen Supermodels hatte er vor der Linse. Seine Portraits zeigen die Frauen pur, unverstellt und auch unperfekt. Das ist zu seinem Markenzeichen geworden und zu seinem Standpunkt.

Man glaubt in den Fotos die wahre Seele der Frauen zu sehen. Kein aufgesetztes Lachen lenkt den Blick ab von kleinen Narben, Fältchen, Sommersprossen.
Es gehört Mut dazu sich so zu zeigen wie man ist.
Lindbergh lenkt den Blick auf das Wesentliche, das Innerste und damit auch auf die Geschichte der Person.

Langsam verstehe ich was die Faszinationen dieser Videovorführung ausmacht.

Man kommt nicht umhin sich zu fragen, was wohl das eigene, unverstellte Portrait aussagen würde.

Was würde der Betrachter in mir lesen?
Welche Erfahrungen habe ich gemacht und welche werde ich noch machen, die sich abzeichnen.

Das Video ist zu Ende und ich verlasse den Raum bevor die Endloswiederholung erneut beginnt.

Kate Moss und Claudia Schiffer sind immer noch da.
Ihre riesigen Portraits schmücken die Wände der Kunsthalle in München.

Sie ist nicht so vollgepackt wie das Pariser Archiv, spiegelt aber dennoch gut die vierzig Jahre Arbeit des Künstlers wieder.Die Arbeit des Künstlers. Arbeit – das sagt man so eigentlich gar nicht. Das Werk des Künstlers, würde man sagen.

Mit Sicherheit ist es anstrengend und echt Arbeit diese Fotoshootings zu machen.

Darüber denke ich aber nicht nach.

Ich denke darüber nach, was der Künstler in die Welt gebracht hat und wie er sie damit verändert hat. Ich denke darüber nach, dass ich gerade sehe wie dieser Mensch den Großteil seiner Zeit verbracht hat.

Studieren, reisen, interessante Leute kennenlernen, Fotografieren, Auszeichnungen, Kritik, Zusagen, Absagen, Duisburg, Paris.

Ich vergleiche unweigerlich mein Leben mit seinem.
Ich blicke durch seine Linse der Wahrheit ins Auge.

Wie würde eine Ausstellung von meinem Leben aussehen, wenn ich siebzig bin?
Womit habe ich meine Zeit verbracht?
Würde ich strahlend in meinem Lebenswerk sitzen?
Was war meine Arbeit?

Oder war es ein Werk?

 

Zum Mitnehmen:
Stell dir vor, dein Leben wird ausgestellt. Was ist zu sehen und wie denkst du darüber? Peter Lindbergh hatte sich erst mit Ende zwanzig der Fotographie gewidmet. Ich finde es ist nie zu spät, um neue Bilder in seine ganz persönliche Ausstellung zu integrieren.

Zum Teilen:
Wie heißt deine Ausstellung?
Laaaangweilig von 9 to 5?! Achterbahn 24/7?! Oder Geiles Leben?!