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„Alter Verwalter, das mache ich nicht bis zur Rente“, denke ich während ich die letzte Folie der Power Point Präsentation für das Meeting am Mittwoch bearbeite.

„Mega. Unten in der Kantine gibt es Smoothies. Komm, wir holen uns einen“, platzt meine Kollegin freudestrahlend ins Büro. Smoothies, oh ja cool, denke ich. Eine willkommene Abwechslung zur trockenen Büroluft. Let`s go. Obwohl…hmm….so richtig Lust habe ich aber eigentlich doch nicht drauf. „Ich komme nach, geht schon mal vor“, rufe ich meiner Kollegin entgegen, um mir noch ein wenig Zeit zum Nachdenken über diese essentielle Entscheidung zu verschaffen. Smoothie? Präsi? First World Problem, stöhne ich als es plötzlich in meinem Container unter dem Schreibtisch rumpelt.

Was war das? Mit Sicherheit ist einfach nur die Packung Anti-Stress Tee von der Packung Energie-Boost Tee gefallen, die ich heute Morgen mitgebracht habe. Kein Grund zur Veranlassung. Also mache ich mich wieder an die letzte Folie. Bis nur wenige Sekunden später das Rumpeln wieder zu hören ist und sich meine Schublade einen Spalt öffnet. Ich rolle mich ruckartig mit meinem Schreibtischstuhl zurück und beuge mich mit angehaltenem Atem nach vorne, um in den Spalt zu schauen. Bitte lass es keine Ratte sein, gebe ich als Stoßgebet ans Universum.

Die Schublade öffnet sich noch weiter und fährt schließlich ganz raus. Vorsichtig schiele ich hinein und da sehe ich es – ein lilafarbenes Tierchen. Es schaut mich mit großen Augen an und wirkt etwas genervt. Das Tierchen hüpft aus der Schublade und watschelt umher. Natalie, sage ich mir, Natalie, kein Fernsehen mehr vor dem Schlafen gehen. Aber auch nach mehrmaligem Blinzeln ist das possierliche Tierchen unter meinem Schreibtisch noch da. Es brabbelt etwas vor sich hin und tritt lautstark gegen den Mülleimer.

„Hallo, wer bist du denn?“, wage ich zu fragen und höre erneut ein Brabbeln. „Verstehst du mich, du kleines Dingsi?“ Dingsi schaut mich mit seinen süßen Knopfaugen an und sagt so klar und deutlich, dass ich fast vom Stuhl falle „ich bin eins deiner Bedürfnisse“.

„Du bist was?“, frage ich Dingsi ungläubig und werfe dabei einen schnellen Blick durch das Büro, um sicher zu gehen, dass mich bei diesem Wahnsinn niemand beobachtet.

Und Dingsi fängt an zu erzählen:

„Ich will einen Smoothie. Erdbeer Smoothie. Aber du hast natürlich wieder andere Sachen zu tun. Du hast mich gar nicht mehr lieb.“ „Muss noch die Präsi fertig machen“, äfft Dingsi mich nach und rollt mit den Augen. „Und dann musst du noch das Review machen, dann musst du zum Sport, dann musst du einkaufen, dann musst du noch das müssen und müssen, müssen, müssen. Immer das gleiche mit dir. Und was ist mit mir? Ich will meinen Smoothie“. Dingsi tritt wieder gegen den Mülleimer und ich frage mich womit ich jetzt auch noch ein trotziges, lila Tierchen verdient habe, das mir Vorwürfe macht. Dafür habe ich jetzt wirklich nicht auch noch Zeit.

Dingsi zupft mir am Hosenbein und atmet tief durch. Es winkt mich mit seinem kleinen Knubbelfingern zu sich herunter und legt sein Händchen auf meins. „Ich möchte dir keine Vorwürfe machen, bitte nimm dir kurz für mich Zeit.“ Ups, Dingsi kann Gedankenlesen.

„Ich höre dir jetzt schon eine ganze Weile zu, bin mir aber nicht sicher, ob du auch mich hörst. Zum Beispiel deine Gedanken beruflich eine neue Richtung einzuschlagen, finde ich sehr interessant, aber immer dann wenn deine Gedanken anfangen konkreter zu werden, erzählst du nicht weiter, sondern unterbrichst dich selbst mit Gründen warum deine Idee ja doch nicht funktionieren wird. Dann machst du dir wieder Sorgen um dein Einkommen und darüber was die anderen sagen. Im Grunde verbringst du mehr Zeit damit dir selbst zu erklären was alles nicht geht als damit, tatsächlich etwas zu ändern.“

„Ich glaube ich verstehe nicht ganz was du meinst. Ich habe doch erst vor einem Jahr einen neuen Job angefangen und damit sehr wohl eine neue berufliche Richtung eingeschlagen“, erwidere ich.

Dingsi klatscht sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „Das meine ich nicht. Herrje. Ich meine, wenn du darüber nachdenkst etwas zu machen was dir wirklich, wirklich wichtig ist und das hinter dir zu lassen, was du schon seit Jahren nicht magst. Hast doch gerade eben erst wieder über Power Point gejammert.
Ich helfe dir auf die Sprünge. Schalte mal wieder die Lieder ein, die du damals gehört hast, als du so rundum im Reinen mit dir warst. Da hast du doch immer diese Katie Tunstall und Gwen Stefanie und so gehört und bist dir total strong und independent vorgekommen. Erinnere dich mal nochmal wie das war. Zu dem Zeitpunkt konntest du drei Sprachen fließend und bist in Madrid rumgeturnt. Reisen wolltest du, nichts war dir zu viel und kein Risiko zu groß. Und wie ist es jetzt? Spanisch hast du seit Jahren nicht gesprochen, deinen Urlaub planst du um Business deadlines herum und du bist ständig zu müde für alles.“

„Ja, aber das ist ja auch normal. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Die Dinge laufen nicht immer so wie geplant. Und wenn man dann arbeitet, dann ist halt nicht mehr so viel Konfetti“ verteidige ich mich.

„Ja aber, aber, aber. Aber ist echt dein Lieblingswort. Ich weiß, du hast deine Entscheidungen so getroffen, wie sie zu jenem Zeitpunkt richtig für dich waren. Ich möchte dich an der Stelle auch ausdrücklich dafür loben, dass du Chancen genutzt hast, fleißig warst und auch deinem Glück immer wieder auf die Sprünge geholfen hast. Und gerade weil ich weiß was alles in dir steckt, möchte ich dich bitten deinem Glück auch jetzt wieder auf die Sprünge zu helfen. Mit all den Erfahrungen, die du gemacht hast und all dem Wissen über das du verfügst, mit all den Wünschen und Idee, die in dir schlummern, bitte ich dich eine neue Überlegung zu starten.
Stell dir vor, du müsstest keine Power Point Präsis mehr machen. Was würdest du dann tun? Stell dir vor du müsstest deinen Job nicht bis zur Rente machen, sondern nur für ein Jahr. Was würdest du machen? Stelle dir vor du könntest aufstehen wann du willst, wohnen wo du willst, mit den Leuten zusammen sein, mit denen du zusammen sein willst, stell dir vor du würdest Geld verdienen, so viel du willst, stell dir vor du könntest diesen Job ab morgen machen. Wie würde der aussehen?“

„Jaja, ich kenne diese Gedankenspiele, Dingsi. Aber wenn ich mir meinen Traumjob ausmale, dann entspricht er ja immer noch nicht der Realität und die Präsi muss ich trotzdem fertig machen.“

Dingsi hüpft auf meine Stuhllehne und schaut mich an. In seinem Blick sehe ich große Sorge und erkenne, das sein Kinn anfängt zu zittern.

„Aber, aber, aber“, sagt Dingsi mit dünner Stimme während ihm ein Tränchen die Wangen herunterrollt.

„Ey, Natalie, wir haben dir jetzt einfach `nen Smoothie mitgebracht, du treulose Tomate. Von wegen ich komme gleich“, tönt meine Kollegin und stellt mir einen Bananen Smoothie auf den Schreibtisch.

Ich hätte aber lieber Erdbeer gehabt, denke ich als mir auffällt, dass Dingsi weg ist.

 

Zum Mitnehmen:
Im Alltagsstress vergisst man oft, was man eigentlich will und hört nicht mehr auf seine Wünsche und Bedürfnisse. Wir geben uns mit den Dingen zufrieden wie sie sind und akzeptieren „Banane“, obwohl wir auch „Erdbeer“ haben könnten. Aber was würden wir machen, wenn wir alles haben könnten was wir wollen?

Zum Teilen:
Wann hast du zuletzt Banane akzeptiert obwohl du Erdbeer haben wolltest?
Und was würdest du tun, wenn alles möglich wäre?